Locker zum Erfolg
Der Max-Planck-Forscher Ferdi Schüth setzt auf Spaß bei der Arbeit. Vor elf Jahren gründete er ein sehr erfolgreiches Unternehmen. Inzwischen ist er die Stimme der deutschen Chemie in Sachen Energieforschung.
Erschienen in: bild der wissenschaft 9/2010
WETTEN, DASS SICH NIEMAND TRAUT, bei einer seriösen Chemie-Fachkonferenz das Auditorium zur morgendlichen Einstimmung aufzufordern, einander an den Händen zu fassen und „Kumbayaaaa“ zu singen? Verloren. Denn genau das hat Ferdi Schüth getan, gerade mal 50 und schon seit 12 Jahren Direktor am ehrwürdigen Max-Planck-Institut (MPI) für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr. Eben jener Schüth, den die Kollegen einhellig als ruhig und besonnen charakterisieren. Gewettet hatte am Vorabend eine kleine gesellige Runde gestandener Wissenschaftler.
Herausforderungen stacheln ihn an
Nur eine Anekdote – doch sie verdeutlicht einen zentralen Wesenszug von Schüth. Sein langjähriger Mitarbeiter Wolfgang Schmidt beschreibt ihn so: „Der Ferdi ist für eine Herausforderung immer zu haben.“ Das hat oft weitreichende Folgen – auch ganz persönliche. Ein Beispiel: Während der hoch aufgeschossene Blonde Ende der 1980er-Jahre an der Universität Münster für seine Doktorarbeit auf dem Gebiet der Physikalischen Chemie forschte, studierte er nebenher Jura – ohne Kenntnis seines Doktorvaters. Ursprünglich, weil er festgestellt hatte, dass viele wichtige Entscheidungen in der Industrie und in der 5 Gesellschaft von Juristen beeinflusst oder getroffen werden: „Ich wollte nicht juristischem Sachverstand ausgeliefert sein“, sagt Schüth. Doch dass er dann – als frischgebackener Doktor der Naturwissenschaften – tatsächlich das Jura-Studium mit dem Ersten Staatsexamen abschloss, geschah hauptsächlich aus Trotz, gesteht er: „Ich war zweimal durch die Prüfung für den sogenannten kleinen BGB-Schein gefallen und wollte mit dem Examen beweisen, dass ich es doch kann.“ Wissenschaft und sogar Wirtschaft profitieren davon, dass Schüth sich von besonderen Herausforderungen gerne anstacheln lässt.
1996 nahm er an einem wissenschaftlichen Kolloquium der Dechema Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie in Frankfurt teil. Bei der Veranstaltung ging es um Katalysatoren, wie sie bei rund 70 Prozent aller Herstellungsverfahren in der chemischen Industrie im Einsatz. Katalysatoren sind der Schlüssel, damit chemische Reaktionen energiesparend bei niedrigen Temperaturen und Drucken ablaufen und weniger unerwünschte Nebenprodukte ergeben. Die Wissenschaftler besprachen bei besagtem Kolloquium Strategien, um schneller als bislang neue und bessere Katalysatoren zu entwickeln. Dabei hatten sie vor allem sogenannte Hochdurchsatz-Verfahren im Blick, mit denen sich die Pharmaindustrie auf die beschleunigte Suche nach neuen Arzneiwirkstoffen macht.
Doch rasch war man sich einig, dass solche Verfahren nicht auf die Katalyseforschung übertragbar seien. Zu entsprechenden Ideen fiel das Wort „Quatsch“. Da war es passiert. Jetzt reizte die Sache Ferdi Schüth – damals Professor an der Universität Frankfurt, die ihn bereits im zarten Wissenschaftler-Alter von 35 Jahren an den Lehrstuhl für Anorganische Chemie berufen hatte. Zurück in seinem Institut, fragte er seine Doktoranden, wer Lust hätte, einen Hochdurchsatz-Reaktor zu bauen. Dies führte zur Geburtsstunde einer neuen Technologie und 1999 zur Gründung der hte AG. Das Kürzel „hte“ steht für „high throughput experimentation“.
Mit 38 Direktor am MPI
Heute ist das Unternehmen, an dem der Chemieriese BASF seit 2008 einen Anteil von 75 Prozent besitzt, nach eigenen Angaben ein „führender Anbieter von Technologien und Dienstleistungen zur Produktivitätssteigerung in Forschung und Entwicklung“ und beschäftigt rund 150 Mitarbeiter. „Auf hte bin ich richtig stolz“, sagt Schüth ohne eitlen Unterton. Er begleitet heute die Geschicke des Unternehmens als Mitglied des Aufsichtsrats, bis 2008 hatte er den Vorsitz inne. Bereits kurz vor der Gründung von hte adelte das MPI für Kohlenforschung in Mülheim/Ruhr den 38-Jährigen, indem es ihn als Direktor berief. An diesem Institut hatte nach dem Zweiten Weltkrieg Nobelpreisträger Karl Ziegler seine weltberühmten Katalysatoren entwickelt, durch die Kunststoffe zur erschwinglichen Massenware wurden. Obwohl Schüth sich durchaus ein ganzes Leben als Hochschullehrer in Frankfurt hätte vorstellen können, folgte er dem Lockruf – vor allem wegen des einzigartigen Gestaltungsspielraums als MPI-Forscher. Ein Wechsel ins operative Geschäft des aufstrebenden Unternehmens hte kam, wie er betont, dagegen nie in Frage: „Dazu bin ich im akademischen Bereich einfach zu glücklich.“
In Mülheim leitet er den Arbeitsbereich „Heterogene Katalyse“ und erschließt damit dem Institut ein neues Forschungsgebiet. „Heterogen“ bedeutet im Fachjargon: Die Katalysatoren sind üblicherweise Feststoffe, während die Stoffe, deren Reaktion beschleunigt wird, als Gase oder Flüssigkeiten vorliegen. In Schüths Arbeitsbereich forschen stets zwischen 30 und 40 Wissenschaftler, wobei die Doktoranden meist nur wenige Jahre bleiben. 2001 wurde Schüth für seine Pionierarbeiten mit dem Preis des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft ausgezeichnet, 2003 erhielt er mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis den höchstdotierten deutschen Forschungsförderpreis. Er ist Mitherausgeber zahlreicher wissenschaftlicher Zeitschriften, Gastprofessor an der Beijing Universität, stellvertretender Vorsitzender der Dechema, Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für das Fachgebiet Chemie. Die Liste ist stark unvollständig.
Mit Spaß zur perfekten Karriere
Wer Schüth nicht persönlich kennt, sondern nur seine Biografie und die Häufung seiner Erfolge und Ämter, der könnte von ihm das Bild eines strategisch vorausplanenden und zielbewusst taktierenden Karrieristen haben. Aber Schüth passt nicht in diese Kontur. Er sagt über sich selbst: „Ich halte nichts von strategischer Karriereplanung, schon deshalb nicht, weil sich in der Wissenschaft nichts planen lässt. Ich habe Schritte stets unternommen, weil sie mir Spaß machten – und erst im Nachhinein haben sie sich als perfekt herausgestellt.“
Zum Gefühl, alles habe sich zum Besten ergeben, gehört für ihn auch, dass er mit Frau und zwei Töchtern an seinem Arbeitsplatz Mülheim lebt – denn das ist nur rund 110 Kilometer von der alten Heimat Warstein, der Mutter und den Verwandten seiner Frau entfernt. Der Sauerländer Schüth mag die Bewohner des Ruhrgebiets, deren Mentalität er als kernig, herzlich und direkt beschreibt. Die tollste Aktion im Veranstaltungsprogramm des Projekts „Kulturhauptstadt Europas Ruhr.2010″ war für ihn, dass am 18. Juli die Autobahn A40 zwischen Dortmund und Duisburg auf 60 Kilometer Länge gesperrt wurde, um darauf 20000 Bierbänke für ein gigantisches Picknick und Kulturfest zu stellen.
Wenn man bei ihm auf das Thema Genuss kommt, fällt ihm eine alte Anzeige ein. Unter dem Text „Heute mache ich mal was mir gefällt…“ zeigte sie das Bild eines sehr entspannten Mannes. Darunter folgte die Ergänzung „… nichts.“ Schüth: „Das spricht mir aus der Seele.“ Für einen wie ihn, der sich gedrängte Arbeitstage voller Verpflichtungen und engmaschiger Gesprächstermine verordnet hat, ist der Tagtraum vom selbstbestimmten Faulenzen ein notwendiger Ausgleich.
Ein Forscher bleibt sich treu
Kollegen aus Forschungsmanagement und Wissenschaft bescheinigen ihm, dass er sich während seiner Karriere stets treu geblieben ist. „Wenn ich den Ferdi von vor 20 Jahren mit dem heutigen vergleiche, hat er sich nicht nur äußerlich kaum verändert. Sondern er ist nach wie vor sehr locker und niemals hektisch“, sagt Kurt Wagemann, heute Dechema-Geschäftsführer. Michael Fröba, Professor für Anorganische Chemie an der Universität Hamburg, bläst ins gleiche Horn: „Bei allem Erfolg hat Ferdi Schüth nichts von seiner angenehmen, natürlichen Art verloren und ist auch bei großem Arbeitspensum beeindruckend belastbar.“ Fröba und Schüth – etwa gleich alt – waren aufeinander aufmerksam geworden, als sie auf ähnlichen Arbeitsgebieten Mitte der 1990er-Jahre für kurze Zeit in den USA forschten. Wieder zurück in Deutschland, hatten sie sich persönlich kennengelernt. Auch bei älteren Kollegen kommt Schüth gut an: „Ich mag ihn sehr, wobei sein Habitus sehr untypisch für einen deutschen Professor ist. Er passt in keine Schublade“, sagt Dieter Fenske (68) vom Karlsruher Institut für Technologie.
Dass Klischees nicht auf ihn passen, belegt auch die Art, wie Schüth seine Abteilung leitet. Frühere Chemiker-Generationen hatten sehr konkrete Vorstellungen von der Arbeit am MPI für Kohlenforschung: Unter Studenten und Doktoranden benachbarter Universitäten erzählte man sich, dass man in Mülheim unter ständiger Beobachtung der Direktoren und Gruppenleiter stehe. Das Einzige, was dort zähle, seien die Zahl der miteinander gemischten Substanzen und der Arbeitsstunden. Den Ursprung solcher Geschichten ahnt, wer einen Rundgang durch das Institut macht: Tatsächlich sind die Büros über Flure miteinander verbunden, von denen aus man wie von einer Galerie in die Labors hinab sieht. Dort oben kann man – häufig unbemerkt – den zeitweise eng nebeneinander stehenden Wissenschaftlern bei der Arbeit zuschauen.
Der Gedanke an Überwachung käme aber unter einem Chef Schüth nie auf, versichern die Mitarbeiter glaubhaft. „Bei uns herrscht ein offenes, vertrauensvolles Arbeitsklima mit flacher Hierarchie und großen Freiheiten“, sagt Wolfgang Schmidt, einer von derzeit vier Gruppenleitern in Schüths Abteilung. Bewerber um eine Wissenschaftlerstelle müssen sich nicht nur bei Schüth selbst vorstellen. Sie müssen auch mindestens einen Tag lang die Büros und Labors des gesamten Arbeitsbereichs durchlaufen. Denn Schüth stellt einen Bewerber nur ein, wenn seine Mitarbeiter keinen Einspruch erheben.
Bezeichnend für seinen Führungsstil ist auch, dass er der Abteilung ein Tischfußballgerät für den Sozialraum spendiert hat. „Wer Spaß hat, macht gute Arbeit – und wenn zum Spaß gelegentliches Kickern gehört, unterstütze ich das“, sagt Schüth. Eine Blaupause für den Erfolg sieht er in seiner Art, eine Forschungsgruppe zu leiten, gleichwohl nicht: „Auch die Peitschenschwinger unter den Wissenschaftlern erzielen teilweise sehr gute Ergebnisse.“
Geschickter Kommunikator
Was ist es wirklich, das diesen Menschen so frappant erfolgreich macht, egal was er anfasst? Darauf angesprochen, weicht Schüth – auch das ist für ihn typisch – in Understatement aus: Der Faktor Glück sei wichtig, sein Arbeitseinsatz in Form von regelmäßigen 60-Stunden-Wochen hingegen eher normal. Kontakte zu knüpfen, falle ihm grundsätzlich schwer, behauptet der geschickte Kommunikator Schüth dann noch und ruft beim Gegenüber dabei das Bild einer Hollywood-Schönheit ab, die fabuliert, sie sei doch im Grunde ein hässliches Entlein. Schüths Kollegen führen seine Erfolge unisono auf ein großes Faktenwissen zurück, gekoppelt mit der Fähigkeit, dieses Wissen aus sehr unterschiedlichen Bereichen der Chemie kreativ zu verknüpfen. Sie bescheinigen ihm, dass er außerordentlich gut mit Wissenschaftlern in aller Welt vernetzt ist. Schmidt hebt außerdem das „unglaublich gute Gedächtnis“ und die „extreme Konzentrationsfähigkeit“ hervor. „Ferdi Schüth betreibt Chemie in einer einzigartigen Breite“, sagt Fenske.
Fröba findet vor allem „großartig, dass er sich dem Energieproblem zugewendet hat“. Fragt man Schüth, was ihn ganz besonders umtreibt, nennt er die Energieversorgung der Welt – für den Mülheimer ist das „die Menschheitsfrage der nächsten Jahrzehnte, deren Lösung vor allem anderen steht“. So gäbe es beispielsweise künftig genug Wasser für die Menschheit, wenn genug Energie für Entsalzungsanlagen zur Verfügung stünde.
Mit Energie
Mit wenigen Worten verdeutlicht der Chemiker, was sein Spezialgebiet, die Katalyseforschung, mit Energie zu tun hat: „Als man in den 60er-Jahren in Erdölraffinerien zeolithische Katalysatoren anstatt der vorher verwendeten amorphen Katalysatoren einführte, konnte man rund 20 Prozent mehr Benzin und Diesel aus jeder Tonne Rohöl herausholen und so jährlich 400 Millionen Barrel Öl einsparen.“ Auch für die Energieversorgung der Zukunft würden neue Katalysatoren benötigt, etwa um Biomasse in Kraftstoff umzuwandeln.
Aktuell hat Schüth gemeinsam mit Forschern des Verbundes „Enerchem“ der Max-Planck-Gesellschaft einen heterogenen Katalysator entwickelt, der Methan aus Erdgasvorkommen einfach und effizient in Methanol umwandelt. Dieser bei Umgebungstemperatur flüssige Alkohol lässt sich auch von Orten abtransportieren, zu denen sich der Bau einer Erdgaspipeline nicht lohnt.
Doch Schüth ist längst mehr als ein Spezialist für einen bestimmten Teilbereich der Energieforschung – er ist jemand, der das Gesamtsystem im Blick hat. Dies hält er für wichtig, einfach deshalb, weil „alles zusammenhängt“. Beispiel Methan: Laut Schüth würde es sich sehr gut als universelles Energiespeichermolekül eignen. „Dafür müsste man das Methan aber unterirdisch in geeigneten Gesteinsschichten lagern. Diese Lagerstätten können wir dann aber nicht mehr nutzen, um darin das Kohlendioxid zu speichern, das künftig aus Kraftwerken abgetrennt werden soll.“
Seit 2007 fungiert Schüth als Vorsitzender des Koordinierungskreises „Chemische Energieforschung“, der von sechs Chemieorganisationen getragen wird – neben der Dechema auch vom Verband der Chemischen Industrie (VCI) und der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh). Schüth begründet: „Ein wichtiger Auslöser, mich in dieser Form zu engagieren, war einerseits das Gefühl, dass in der Chemie-Community die Wichtigkeit der Energieforschung noch nicht angekommen war – und andererseits die Gewissheit, dass die Chemie eine Schlüsselwissenschaft bei der Lösung der Energiefrage ist.“
Inzwischen dürfte sich diese Botschaft auch dank dreier Positionspapiere und gelungener öffentlicher Auftritte Schüths herumgesprochen haben. Alle Gremien, denen der unkonventionelle Wissenschaftler angehört, profitieren von dessen besonderer Gabe, nicht nur mit Molekülen, sondern auch mit Menschen klug umzugehen. Dechema-Geschäftsführer Wagemann bringt es auf den Punkt: „In seiner Umgebung fällt es anderen sehr schwer, sich mit Eifersüchteleien und Egoismen kontraproduktiv zu verhalten.“ Ob der ständige Umgang mit Katalysatoren irgendwann auf die Persönlichkeit abfärbt?
Dr. Frank Frick, Wissenschaftsjournalist