Mein Artikel „Risiken und Nebenwirkungen“ in der Mai-Ausgabe von „bild der wissenschaft“ zeigt auf, wie sich die klinischen Studien manipulieren lassen, mit denen die Wirksamkeit und die Nebenwirkungen von Medikamenten geprüft werden. „Kann man nicht besser schreiben“, urteilte ein Wissenschaftsjournalist darüber, der nicht befreundet mit mir ist. Ich freue mich darüber, da ich keinen Grund habe, anzunehmen, dass mir der Kollege Honig um den Bart schmieren wollte. Aber bilden Sie sich doch Ihr eigenes Urteil!
Den Text des Artikels können Sie sich auch hier als PDF-Datei herunterladen: 16_bdw_Klinische_Studien
Risiken und Nebenwirkungen
Pharmafirmen greifen zu Tricks, um klinische Studien so zu gestalten, dass neue Medikamente als besonders wirksam und verträglich eingestuft werden.
Peter Freund (Name geändert) leidet an einer schweren Depression. Eine Psychiaterin vom örtlichen medizinischen Versorgungszentrum für Psychotherapie und Psychiatrie, das er aufsucht, verordnet ihm das Antidepressivum Paroxetin. Nachdem er es drei Tage genommen hat, überfällt Freund eine Lebensmüdigkeit. Der 50-jährige denkt daran, sich ein Messer in die Brust zu stoßen und erschrickt: Zuvor hatte er noch nie Selbstmordgedanken. Freund ist überzeugt: Das Medikament Paroxetin ist schuld daran. Er geht in die Notfallsprechstunde des Zentrums. Dort verschreibt ihm ein Arzt ein anderes Antidepressivum, das Freund ab dem nächsten Tag einnimmt. Nach zwei Wochen fühlt Freund sich wieder gut, seine Suizid Gedanken sind verschwunden. Allerdings ist sein Blutdruck beängstigend angestiegen. Sein Hausarzt verschreibt ihm ein blutdrucksenkendes Medikament, und der Blutdruck normalisiert sich.
Gedanken an Selbstmord
Für Peter Freund liegen die Zusammenhänge auf der Hand: Paroxetin hat die Selbstmordgedanken verursacht, und das andere Medikament hat zwar gegen seine Depression geholfen, dafür aber seinen Blutdruck in die Höhe getrieben. Doch Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums am Universitätsklinikum Freiburg, meint: „Um das zu beurteilen, müsste es zwei identische Freunds im exakt gleichen Krankheitszustand geben. Und einer davon müsste das Medikament nehmen, der andere nicht. Weil es das nicht gibt, muss man klinische Studien durchführen. Dabei ersetzen zwei Gruppen von Menschen, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden, die beiden Peter Freunds“. Eine Gruppe erhält ein bestimmtes Arzneimittel, die andere Pillen ohne Wirkstoff, sogenannte Placebos. Weder Ärzte noch Studienteilnehmer erfahren, wer den Wirkstoff erhält und wer das Placebo. Mediziner sprechen von einer „Doppelblindstudie“. Sie gilt als besonders aussagekräftig.
Als Freund aufmerksam den Beipackzettel von Paroxetin studiert, liest er: „Wenn Sie depressiv sind oder unter Angststörungen leiden, können Sie manchmal Gedanken daran haben, sich selbst zu verletzen oder Suizid zu begehen. Solche Gedanken können bei der erstmaligen Anwendung von Antidepressiva verstärkt sein.“ Auf der Suche nach weiteren Informationen findet Freund in der Fachzeitschrift „The BMJ“ einen Artikel aus dem Jahr 2005. Die Autoren, unabhängige Wissenschaftler, haben in einer sogenannten Meta-Analyse die Ergebnisse von unterschiedlichen, aber ähnlichen Studien statistisch zusammengefasst. Sie untersuchten zum Beispiel den Zusammenhang zwischen Selbstmordrisiko und der Wirkstoffklasse, zu der Paroxetin gehört. Eines der Ergebnisse: Bei insgesamt fast 17000 erfassten Patienten unter 60 Jahren gab es unter Medikamenteneinnahme bedeutend mehr Selbstmordversuche und Selbstmorde.
Daher wundert sich Freund zunächst nicht, als er im September 2015 in derselben Fachzeitschrift auf die Ergebnisse einer aktuellen Studie stößt. Danach beschäftigen sich Kinder und Jugendliche, die Paroxetin einnehmen, häufiger als eine Kontrollgruppe mit Selbstmord. Was ihn dagegen erstaunt: Die Autoren kommen außerdem zu dem Ergebnis, dass das Medikament bei diesen Patienten nicht gegen schwere Depressionen hilft. Kurzum: Bei Heranwachsenden nützt Paroxetin nichts, sondern schadet allenfalls.
Besonders verblüffend aber findet Freund: Die Wissenschaftler hatten dieselben Daten ausgewertet wie 22 Kollegen im Jahr 2001. Die damalige Gruppe kam nach der Auswertung ihrer klinischen Studie zu dem Schluss: Paroxetin wirkt bei Kindern und Jugendlichen gegen Depression und ist gut verträglich. Finanziert hatte die Studie SmithKlineBeecham, ein britischer Pharmakonzern. Er nutzte die Studienergebnisse, um bei Ärzten in den USA für den nicht-zugelassenen Einsatz von Paroxetin bei Kindern und Jugendlichen zu werben. Die Ärzte verschrieben Heranwachsenden daraufhin das Medikament allein im Jahr 2002 über zwei Millionen Mal – und der Konzern verdiente damit 55 Millionen US-Dollar.
Die Autoren der aktuellen Studie begründen das abweichende Ergebnis unter anderem folgendermaßen: Nebenwirkungen und Selbstmordversuche, die in den Teilnehmerakten verzeichnet waren, wurden nicht korrekt in den sogenannten „Clinical Study Report“ übertragen. Dieser Bericht des Medikamentenherstellers an die Zulassungsbehörden hat typischerweise einen Umfang von rund 1000 Seiten und enthält in festgelegter Form etwa Angaben zum Design der Studie sowie zur Wirksamkeit und Verträglichkeit des Arzneimittels. Herausfinden konnten die Experten der aktuellen Studie das nur, weil sie 77.000 Seiten originaler Fallberichte von GlaxoSmithKline – wie das Unternehmen heute heißt – zur Verfügung gestellt bekamen.
Und das ist nicht selbstverständlich: „Schon oft haben Pharmakonzerne die vollständige Herausgabe solcher Daten verweigert“, sagt Antes. Die „Cochrane Collaboration“ verlangt seit Jahren, dass Pharmafirmen alle Daten offenlegen. In dieser Organisation sind Wissenschaftler aus aller Welt Mitglieder, die klinische Studien systematisch sichten und bewerten, um so verlässliche und unabhängige Gesundheitsinformationen zu erstellen.
Mehr Transparenz
In Europa hat die Cochrane Collaboration inzwischen Gehör gefunden: Die Europäische Zulassungsbehörde EMA wird den Clinical Study Report zukünftig vollständig auf ihrer Website veröffentlichen. Auch die Studien-Rohdaten mit den kompletten – aber anonymisierten – Behandlungsakten können auf Antrag für nicht-kommerzielle Zwecke eingesehen werden, zum Beispiel von Wissenschaftlern. Das ist ein großer Fortschritt.
Unsauberkeiten bei der Ermittlung, wie wirksam neue Medikamente sind, gibt es auch beim Design der Studien. Damit beschäftigen sich beispielsweise die unabhängigen Experten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in Köln, das aus den Beiträgen der Mitglieder aller gesetzlichen Krankenversicherungen finanziert wird. „Manche Studien sind von Anfang an so entworfen, dass sie das Wunschergebnis des Pharmaherstellers begünstigen“, urteilt Thomas Kaiser, Leiter des Ressorts für Arzneimittelbewertung.
So legte das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim eine Studie vor, in der es darum ging, inwieweit die Kombination eines neuen Wirkstoffs mit dem etablierten Medikament Metformin dazu beiträgt, den Blutzuckerspiegel von Diabetes-Patienten im Rahmen zu halten. Die Firmen leiteten aus ihren Ergebnissen einen „beträchtlichen Zusatznutzen“ gegenüber der bisherigen Arzneimittelgabe ab. Ein solcher „beträchtlicher Zusatznutzen“ wäre für die Unternehmen bares Geld wert, denn er wird in den nachfolgenden Verhandlungen im sogenannten „Gemeinsamen Bundesausschuss“ honoriert. Dieser Ausschuss, das höchste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenkassen und Krankenhäusern, entscheidet unter anderem darüber, wie viel die gesetzliche Krankenversicherung für ein neues Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff zahlt. Als Zusatznutzen gaben die Firmen an, dass die mit dem neuen Mittel behandelten Diabetes-Patienten seltener unter Unterzuckerung oder Störungen der Blutversorgung im Gehirn litten.
Unfairer Vergleich
Grundsätzlich gut! Aber der Vergleich war unfair: Die Ärzte hatten die alte Kombinationstherapie mit einer wechselnden Dosierung vorgenommen und diese immer so gewählt, dass der Blutzuckerwert der einen Gruppe maximal abgesenkt wurde. Der anderen Gruppe hatten sie das neue Medikament immer in der gleichen Dosis verabreicht. „Das ist so, als ob Sie zwei Gruppen von Radfahrern den Auftrag geben, möglichst schnell ein Ziel zu erreichen. Die Radler der einen Gruppe müssen sich nicht an die Straßenverkehrsregeln halten und haben keine Helmpflicht, die der anderen schon“, erläutert Thomas Kaiser. „Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn sich die Fahrer der ersten Gruppe häufiger verletzen.“ Kurzum: Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen attestierte der neu vorgelegten Kombinationstherapie keinen Zusatznutzen. Kaiser weist außerdem darauf hin, dass der gemessene Blutzuckerspiegel kein „patientenrelevanter Endpunkt“ sei. Im Klartext heißt das: Aus einem bestimmten Blutzuckerspiegel lässt sich nicht zwangsläufig ableiten, dass sich ein Patient besonders gut fühlt oder dass sein Risiko besonders gering ist, an Herz oder Kreislauf zu erkranken. Genau dies sind aber die Gründe, warum Patienten Antidiabetika einnehmen.
Ein anderes Beispiel sind Krebserkrankungen. „Wenn Medikamente in klinischen Studien nachweisen, dass sie das Tumorwachstum zeitweise aufhalten, sagt das nicht unbedingt etwas aus über die Wirksamkeit im Sinne von Lebensqualität oder gewonnenen Lebenstagen“, sagt Kaiser. Es gebe Therapien, bei denen die Tumore schrumpfen, die Patienten aber schneller sterben.
Dass das Institut für Qualität und Wirksamkeit im Gesundheitswesen den Zusatznutzen eines Medikaments nur akzeptiert, wenn er sich in geringeren Sterblichkeits- und Erkrankungsraten oder in einer verbesserten Lebensqualität zeigt, wird von der Pharmaindustrie kritisiert. „Um beispielsweise zu prüfen, ob ein Krebsmedikament das Überleben verlängert, dürfte man keinem Studienteilnehmer vor seinem Tod noch eine andere Krebsbehandlung gestatten – das jedoch wäre unethisch“, sagt Rolf Hömke. Der VFA-Experte weiter: „Außerdem ist es nahezu unmöglich, die Lebensqualität eines Schwerkranken akkurat zu erheben, wenn ihn schon zehn Fragen zu seinem Zustand extrem erschöpfen.“
Wie geschickt medizinische Studien in eine bestimmte Richtung gelenkt werden können, offenbart die aktuelle Debatte um ein Medikament, das Frauen mehr Lust auf Sex machen soll. Es geht um den Wirkstoff Flibanserin, der vom Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim entwickelt wurde. 2010 legte das Unternehmen der US-Gesundheitsbehörde FDA zwei Studien vor, nach denen Frauen bei sexueller Unlust vor ihrer Menopause mehr „befriedigende sexuelle Ereignisse“ erlebten. Doch ein anderes Ziel – Mediziner nennen es den primären Endpunkt – verfehlten die Studien: Das „tägliche sexuelle Verlangen“, über das die Teilnehmerinnen Tagebuch führten, steigerte der Wirkstoff nicht. Zudem hatte die Behörde Bedenken, dass das Mittel die Schläfrigkeit erhöhen könnte. Mehr noch: Zusammen mit Alkohol oder Verhütungsmitteln eingenommen, könnten schwere Nebenwirkungen die Folge sein. Der Antrag auf Zulassung von Flibanserin wurde abgelehnt: Weitere Studien seien notwendig.
Kaum Frauen im Test
Zwei Jahre später legte Boehringer Ingelheim nach. Über das tägliche sexuelle Verlangen führten die Teilnehmer nun erst nach vier Wochen Protokoll. Und siehe da: Im Nachhinein beurteilten die Probanden den Wirkstoff positiv. Die ebenfalls nachgereichte Studie über Nebenwirkungen bei Alkoholkonsum fiel durch eine merkwürdige Zusammensetzung der Teilnehmer auf: Nur zwei der 25 waren Frauen! Kaiser kommentiert das so: „Der Ein- oder Ausschluss von Teilnehmern kann dazu dienen, das Ergebnis zu beeinflussen.“ Wiederum versagte die FDA die Zulassung. Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende: Vor wenigen Jahren kaufte Sprout Pharmaceuticals, ein kleines US-Pharmaunternehmen, die Rechte an Flibanserin. Sprout finanzierte eine Kampagne, die dem FDA sexistische Gründe für die zweimalige Ablehnung vorwarf. Außerdem reichte es weitere Studien nach. Diese Maßnahmen hatten Erfolg: Ende 2015 wurde der Wirkstoff zugelassen, allerdings unter Auflagen, zu denen ein Alkohol Warnhinweis gehört. Die Behörde meinte nun, dass die „bislang unbefriedigten medizinischen Bedürfnisse“ mancher Frauen die Zulassung rechtfertige, trotz der Risiken des Wirkstoffs. Da störte es dann offenbar nicht, dass nur eine von zehn Frauen von Flibanserin profitiert.
Dr. Frank Frick, Medizinjournalist