Ärzte blicken bei Operationen mit Tablet-Computern virtuell in die Leber oder Niere des Patienten, während sie mit ihren Instrumenten zum erkrankten Areal vorstoßen.
Erschienen in: bild der wissenschaft 9/2014
Apps sind in Krankenhäusern nichts Neues. Mit den einfach anzuwendenden Programmen auf Tablet-Computern und Smartphones werden angehende Mediziner geschult, und sie unterstützen den Informationsaustausch von Ärzten und Pflegern. Nun sollen sie auch bei Operationen helfen.
Ganz vorne mit dabei ist das Universitätsklinikum Yokohama in Japan. Die Ärzte Itaru Endo und Ryusei Matsuymama planen dort seit Jahren ihre Eingriffe an der Leber mithilfe von 3D-Bildern, die vorher mit einem Computertomografen aufgenommen wurden – und einer deutschen Software. Sie rechnet aus, wie in der erkrankten Leber des Patienten das verästelte System aus Adern und Venen verläuft, durch das pro Minute rund eineinhalb Liter Blut fließen – eine wichtige Information, um zum Beispiel das Skalpell beim Entfernen eines Tumors richtig anzusetzen. Doch dabei gibt es ein Problem: Während der Operation haben die Chirurgen die Bilder und Planungsdaten nicht vor Augen, sondern müssen sich auf ihre Erinnerung oder auf Papierausdrucke verlassen.
Itaru Endo nahm daher Kontakt mit MEVIS auf, dem Fraunhofer-Institut für Bildgestützte Medien in Bremen, dessen Wissenschaftler die Software entwickelt hatten – und MEVIS-Informatiker Alexander Köhn reiste für drei Monate nach Japan. Das Ergebnis ist eine Tablet-App, die es den Ärzten erlaubt, den OP-Verlauf direkt am Operationstisch mit den Planungsdaten zu vergleichen. Vor allem aber lässt sich mit der Kamera des Tablets die Leber während der OP filmen, um dann den errechneten Verlauf der Blutgefäße in das reale Bild einzublenden. „Mit dieser Funktion können die Ärzte quasi wie mit Röntgenblick in das Organ hineinschauen und das Gefäßsystem sehen“ , erläutert Köhn.
Per Fingertipp zum Blutgefäß
Die App bietet noch mehr Möglichkeiten: So kann der Arzt mit einem Fingertipp auf den Touchscreen ein Blutgefäß auswählen. Die App berechnet das davon abhängige Lebergewebe und zeigt es an. Wenn aufgrund einer weiteren Metastase dieses Gefäß durchtrennt werden muss, kann der Chirurg einen neuen Schnitt planen und das damit verbunden Risiko direkt im Operationssaal abschätzen.
15 Operationen haben Itaru Endo und sein Team bis Mitte Juni mit dem MEVIS-System ausgeführt. „Es sieht so aus, als würde sich im Vergleich zu vorherigen vergleichbaren Eingriffen die Operationszeit verkürzen und der Blutverlust verringern“, berichtet MEVISPressereferentin Bianka Hofmann und beruft sich dabei auf Fachvorträge der japanischen Ärzte. Diese wollen insgesamt 50 Mal mit Unterstützung des MEVIS-Systems operieren, bevor sie ein Resümee ziehen. In Deutschland hatte die App ihren ersten Einsatz im August 2013 bei einer Leberoperation durch ein Chirurgenteam der Asklepios Klinik Barmbek. Chefarzt Karl Oldhafer attestierte der Methode danach großes Potenzial.
Auch Urologen der SLK-Kliniken in Heilbronn und der Universitätsklinik Heidelberg um Jens Rassweiler erproben derzeit bei Operationen eine spezielle Kombination von Tablet-Computer und App. Das sogenannte SurgeryPad, entwickelt am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, nutzt die Kamera eines iPad, um die Körperoberfläche des Patienten zu filmen. Auf das Bild dieser Oberfläche projiziert die App eine 3D-Darstellung der Organe, die aus zuvor aufgenommenen computertomografischen Bildern berechnet wurde. Dabei sieht der Arzt beispielsweise die virtuelle Niere immer genau aus demselben Blickwinkel, aus dem er auch den Patienten betrachtet. Denn mithilfe von farbigen Markierungen auf der Haut des Patienten gleicht die App die räumliche Ausrichtung des iPad innerhalb von Sekundenbruchteilen mit der virtuellen Ansicht aus dem Körperinneren ab.
Aufgrund dieser automatischen Überlagerung von Bilddaten bezeichnet Entwickler Michael Müller vom DKFZ das SurgeryPad als „ weltweit einzigartig“. Beim MEVIS-System erfolgt die Überlagerung dagegen manuell. „Eine vollautomatische Anpassung würde eine Erwartung an die Genauigkeit hervorrufen, die das iPad und wenige Markierungen außen auf der Leber nicht leisten können“, erklärt Andrea Schenk, Leiterin Leberforschung am Fraunhofer MEVIS, „weil dieses Organ weit verformbarer ist als etwa die Niere.“
Die Entwicklung des SurgeryPad erfolgte mit Blick auf ein Operationsverfahren, das Mediziner häufig anwenden, um große Nierensteine zu entfernen: Die Ärzte stechen mit einer Nadel durch die Haut und dringen dann unter Röntgenkontrolle zu dem Stein vor. Ob dabei das SurgeryPad hilfreich ist, haben zwei erfahrene Operateure und ein Assistenzarzt 2013 getestet – an einem Modell aus der Niere eines toten Schweins, umhüllt von einem Gelatine-Block. Das Ergebnis war positiv: Der Assistenzarzt brauchte mit dem SurgeryPad rund 20 Prozent weniger Zeit für die Nierenpunktion als ohne das System. Und: Die Ärzte konnten die Röntgenstrahlung während der Nadel-Navigation verringern.
Aufgrund dieses ermutigenden Ergebnisses erfolgten erste Eingriffe an Nierenstein-Patienten. Derzeit läuft eine klinische Studie, die die Urologin Marie-Claire Rassweiler von der Universitätsklinik Mannheim koordiniert. „Nach den Erfahrungen der bisherigen 25 Nierensteinoperationen denken wir, dass der Einsatz des SurgeryPad bei komplizierten Fällen sinnvoll ist – etwa bei anatomischen Besonderheiten oder Organschäden aufgrund früherer Operationen“, sagt sie. Für eine endgültige Beurteilung sei es aber noch zu früh.
Zwei Apps, ein Navi und eine Datenbrille
Das DKFZ hat das SurgeryPad als Exponat auf dem Ausstellungsschiff „MS Wissenschaft“ platziert, das derzeit fünf Monate lang durch Deutschland tourt. iPad-Hersteller Apple schlägt derweil die Werbetrommel für das MEVIS-System: Der TV-Spot „Life on iPad“ zeigt eine Operationsszene unter Tablet-Einsatz. Beide Operations-Apps müssen sich gegen High-Tech-Konkurrenz durchsetzen. So waren die Forscher am Fraunhofer MEVIS auch an der Entwicklung des inzwischen zertifizierten Navigationssystems des schweizerischen Unternehmens CAScination aus Bern beteiligt. Dabei werden Ultraschallbilder mit 3D- Modelldaten des Patienten abgeglichen, die aus radiologischen Bildern vor der Operation berechnet wurden. Außerdem arbeiten MEVIS-Wissenschaftler daran, 3D-Bilder und Planungsdaten direkt auf ein Organ oder das OP-Tuch zu projizieren. Vielversprechend ist vor allem die Datenbrille „ Glass“ des Internet-Giganten Google, die in Europa möglicherweise Ende 2014 auf den Markt kommen wird. Sie scheint wie geschaffen für einen Einsatz im Operationssaal.
Dr. Frank Frick, Medizinjournalist