Die Selbstvermesser kommen: Mit Sensoren und Smartphone-Apps erfassen immer mehr Menschen ihren Blutdruck, ihr Bewegungsverhalten oder ihre Stimmung – und verbreiten diese persönlichen Daten auf sozialen Plattformen im Internet.
erschienen in bild der wissenschaft, 10-2013 unter dem Titel: Blutdruck statt Briefmarken
MIT 17 JAHREN begann Benedikt Schaumann regelmäßig zu laufen. Er meldete sich beim Internet-Dienst „dailymile“ an. Jeden zweiten Abend tippte er in seinen Computer ein, welche Strecke er genommen hatte, wie schnell er gewesen war und wie es ihm beim Joggen ergangen war. „Es ist für mich geradezu schmerzhaft, wenn ich nachträglich auf Lücken in der Aufzeichnung treffe“, sagt Schaumann. Fehlende Tage in seiner persönlichen Statistik vermeiden zu wollen, habe ihm immer geholfen, sich zum Laufen zu motivieren.
Ein weiterer Punkt, der dazu beitrug, dass sich der Hobbyläufer nicht hängen ließ: Freunde und Bekannte traten ebenfalls der virtuellen Laufgemeinschaft bei. „So haben wir gegenseitig feststellen können, ob der Andere laufen war oder nicht“, berichtet Schaumann, der heute verantwortlich ist für die Online-Kommunikation von Hamburgs Oberbürgermeister Olaf Scholz. Inzwischen zeichnet er seine Laufdaten weitgehend automatisch mithilfe einer Smartphone-App auf, die unter anderem den Puls misst und den Kalorienverbrauch angibt.
2010 besuchte Benedikt Schaumann den Vortrag eines Managers aus der Computerindustrie. Da hörte er erstmals von Quantified-Self (QS). Unter diesem Schlagwort organisieren sich Menschen, die regelmäßig und freiwillig Daten über den eigenen Körper, die eigene Psyche oder die täglich zurückgelegten Schritte sammeln. Mit diesen Daten bewerten sie ihre sportlichen Aktivitäten, ihre Lernerfolge oder Erfolge bei der Online-Suche nach einem Partner. Sie bereiten die Ergebnisse grafisch auf und stellen sie in sozialen Plattformen im Internet öffentlich aus.
QS-Anhänger kommen auch persönlich zusammen – bei regionalen Treffen, den sogenannten Meetups, und auf internationalen Konferenzen. Heute zählt die organisierte Szene weltweit etwa 20.000 Menschen, darunter rund 400 in Deutschland. Dazu nutzen Millionen Menschen selbstvermessende Smartphone-Apps – im Fitnessstudio, beim Walken oder Radfahren.
Vor ein paar Jahren fing Benedikt Schaumann an, sich auf den Internetseiten der QS-Bewegung zu informieren. Vor allem las er die Berichte auf den US-amerikanischen Seiten. Dort hatten 2007 zwei Journalisten des Technologiemagazins Wired den Begriff Quantified-Self geprägt und die organisierte Szene ins Leben gerufen. Und der Hamburger Online-Kommunikationsfachmann stieß auf das Buch „Der 4-Stunden-Körper“ des Autors Timothy Ferriss und die darin enthaltenen Ernährungspläne. Schaumann probierte diese „Brutal-Diät“ (Bild-Zeitung) an sich selber aus – und führte öffentlich Buch darüber. Auf seinem Internet-Blog verriet er seine Einkaufszettel und fotografierte seine Mahlzeiten. Via Kurznachrichtendienst Twitter informierte er darüber, inwieweit er den Diätplan einhielt. Außerdem testete er ein modisches Fitness-Armband, das Beschleunigungssensoren enthält und Auskunft darüber gibt, wie aktiv der Tag seines Trägers war. „Dann allerdings fing ich mich immer häufiger an zu fragen, welche Ziele ich mit der Selbstvermessung verfolgte“, sagt Schaumann.
ONLINE-UMFRAGE UNTER SELBSTVERMESSERN
Aus einer anderen Perspektive stellte sich diese Frage Marcia Nißen, als sie bei einem Seminar während ihres Wirtschaftsingenieur-Studiums am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erstmals etwas von der QS-Bewegung hörte: „Sofort wollte ich wissen: Was treibt Selbstvermesser zu ihrem Tun an?“ Auf Internet-Seiten von QS-Bewegten und in Medienberichten stieß sie zwar auf einige individuelle Antworten, nicht aber auf eine systematische Übersicht: Das Thema für ihre Bachelor-Arbeit war gefunden.
Bevor Nißen eine umfassende Online-Umfrage für ihre Arbeit konzipierte, besuchte sie ein Meetup in Berlin und diskutierte auf Internet-Foren mit QS-Anhängern. Beworben über Facebook, Twitter und Meetup-Blogs, nahmen schließlich im November 2012 über 400 Menschen an der Umfrage teil. Davon füllten 150, die tatsächlich als QS-Anhänger gelten können, den Online-Fragebogen komplett aus.
HEISSE DISKUSSIONEN ÜBER ZAHLEN
Die Resultate der Studie zeigen: Am häufigsten sammeln die Selbstvermesser Informationen über Fitnessübungen, Laufdistanzen, Schritte, Gewicht, Schlafdauer, Pulsfrequenz, Schlafqualität, Kalorien- und Wasseraufnahme. Immerhin ein Viertel der Befragten hält auch seine Stimmung fest. Im Durchschnitt erfassen die Selbstvermesser neun verschiedenartige Parameter. Auch Befragte, die unter einer chronischen Krankheit wie Diabetes leiden, überwachen fast immer mehr als nur die unmittelbar damit verknüpften Werte wie etwa den Blutzuckerspiegel. Doch die Selbstvermesser werten nicht nur eigene Daten aus, sondern beschäftigen sich darüber hinaus im Schnitt eine Dreiviertelstunde pro Tag mit Quantified-Self: Sie lesen Artikel, schreiben Weblogs oder Tweets und diskutieren mit Freunden online oder persönlich über Aktivitäten und die erhaltenen Zahlen.
Als einen der Gründe für die Selbstvermessung, auf die Nißen gestoßen ist, nennt sie „Selbstdisziplin“: Rund 75 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass sie ihre Werte überwachen, weil das „die Selbstdisziplin erleichtert“ oder „mich motiviert, weiter für ein Ziel zu arbeiten“. Das entspricht der Haltung Benedikt Schaumanns. Doch seit seiner kleinen Quantified-SelfSinnkrise vor einigen Monaten verfolgt der Hamburger neue Ziele: „Ich zeichne nicht mehr nur gesundheitsbezogene Werte auf, sondern halte beispielsweise auch fest, wie viel Zeit ich mit Freunden verbringe oder ob ich es geschafft habe, jeden Tag früh aufzustehen.“
Schaumann ist überzeugt, durch die Selbstüberwachung sein Leben beeinflussen zu können. Marcia Nißen sieht in der „Selbstoptimierung“ gar den Grund Nr. 1 für die Selbstvermessung: „Viele Mitglieder der QS-Bewegung haben von der eigenen Persönlichkeit und Gesundheit eine bestimmte Vorstellung, die sie erreichen möchten.“ So geben rund 84 Prozent der Befragten geben an, dass sie kontrollieren möchten, „was sie mit ihrem Leben tun“. Drei weitere prinzipielle Motive für die Selbstvermessung hat Nißen aufgrund ihrer Umfrage identifiziert:
• das Streben, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen und sich in einer Gemeinschaft zu vergleichen.
• den Spaß an Messungen mit neuen Geräten oder Smartphone-Apps, deren technische Möglichkeiten man ausloten will – speziell bei jungen Menschen.
• bei einem Teil der QS-Anhänger den Wunsch, sich unabhängiger von Ärzten zu machen oder gar Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem.
DER PATIENT WIRD ZUM PARTNER
Umgekehrt sehen manche Ärzte und Psychologen die Selbstvermesser durchaus positiv. „Die QS-Bewegung fügt sich in einen größeren Trend in der Medizin ein“ “, sagt Thomas Kubiak, Professor für Gesundheitspsychologie an der Universität Mainz: „Der Patient wandelt sich zum Partner des Arztes – auch deshalb, weil der Patient immer leichter an Informationen und Daten herankommt.“ Gerade Patienten mit chronischen Leiden könnten durch die Überwachung ihrer Werte und Selbstmanagement ihre Krankheit besser in den Griff bekommen. Immerhin gab jeder dritte Teilnehmer Marcia Nißens Umfrage an, dass er unter einer chronischen Krankheit leide.
„Elektronische Tagebücher und Messdaten-Aufzeichnungen im Alltag und in Echtzeit sind prinzipiell eine großartige Sache“, meint Ulrich Ebner-Priemer, Professor für Angewandte Psychologie am KIT. „Damit können Patienten im Zusammenspiel mit ihrem Arzt selbst erkennen, ob ein Medikament oder eine Behandlungsmaßnahme individuell wie gewünscht wirkt.“ Ebner-Priemer setzt in seiner Forschung auf vergleichbare Methoden der Datenaufzeichnung, die in der Wissenschaft unter dem Begriff „Ambulatory Assessment“ eingeführt sind. Allerdings weist Ebner-Priemer darauf hin, dass viele Smartphone-Apps fehlerhafte Messwerte liefern oder sie auf medizinisch irrelevante Weise auswerten.
Prinzipiell aber sind die beiden Psychologen aus Mainz und Karlsruhe überzeugt: Es ist hilfreich, sich zunächst selbst zu beobachten, wenn man sein Befinden oder zum Beispiel sein Körpergewicht verändern will. Aus gutem Grund stünde ein Wahrnehmungstraining am Anfang vieler psychologischer Programme, die auf Verhaltensänderungen zielen. „Jedoch kann die Selbstbeobachtung bei einzelnen Menschen auch zwanghaft werden und suchtartigen Charakter bekommen“, warnt Kubiak.
Manche Vordenker der QS-Bewegung, vor allem in den USA, sind überzeugt, dass die Daten der Selbstvermesser für die Medizin ein Schatz sind, den es zu heben gilt. Online-Plattformen wie „Patientslikeme“ („Patienten wie ich“) oder „Cure together“ („Zusammen heilen“) wollen, dass Menschen ihre Messwerte für Forschungszwecke zur Verfügung stellen –- beispielsweise, um die Wirkung von Arzneimitteln oder einer Diät zu untersuchen, ohne auf Studien der Pharmaindustrie angewiesen zu sein. Ähnlich denkt der Berliner Ralf Belusa: „Vor allem die erhältliche Datenmenge ist beeindruckend: Während bei medizinischen Studien oftmals Daten von wenigen Hundert Probanden erhoben werden, hat man über Online-Plattformen oder Fitness-Apps Zugang zu den Werten von Zehntausenden oder gar Millionen von Menschen.“ Angesichts der Quantität der Daten sei deren Qualität nicht mehr so entscheidend, findet Belusa, promovierter Mediziner, der bei einem Verlag im Online-Marketing arbeitet und selbst in der QS-Szene aktiv ist. „Wenn man die teilweise ungenauen Werte von Millionen Menschen nutzt, macht man kleinere Fehler, als wenn man auf die genau gemessenen Werte von 200 Menschen zurückgreift“, meint er.
Widerspruch kommt von Gert Antes, dem Leiter des Deutschen Cochrane Zentrums in Freiburg, das die Qualität medizinischer Studien bewertet: „Die Idee, die Daten von Selbstvermessern zu nutzen, ist faszinierend. Doch dabei wird übersehen, dass dies unweigerlich zu schweren systematischen Fehlern führt.“ Einer davon: Die Informationen, die man auswertet, stammen von Menschen, die sich deutlich von den Patienten unterscheiden, denen geholfen werden soll. So sind Selbstvermesser vermutlich eher fit und jung. Aus ihren Daten lässt sich demnach wahrscheinlich herauslesen, dass die Gesundheit von einem täglichen 10-Kilometer-Lauf profitiert. Es wäre jedoch verhängnisvoll, aufgrund dieses Ergebnisses Patienten mit schwerem Herzleiden zu solchen Läufen zu raten.
KEIN ERSATZ FÜR KLINISCHE STUDIEN
Klinische Studien folgen im Idealfall einer jahrzehntelang ausgefeilten Methodik, die es ermöglicht, Behandlungsmethoden fair miteinander zu vergleichen. „Sie lassen sich nicht ersetzen“, sagt Antes. Daran würden auch die modernen Möglichkeiten zur Verarbeitung großer Datenmengen nichts ändern: „Falls diese Datenmengen systematisch falsch erhoben wurden, führen sie mit hoher Genauigkeit zu fundamental falschen Aussagen.“ Für Unternehmen aus vielen Branchen wären die individuellen Daten von Selbstvermessern auf jeden Fall wertvoll: Versicherungen könnten möglicherweise den Gesundheitszustand abschätzen und ihre Tarife entsprechend ausrichten. Und Hersteller von Getränken, Nahrungsergänzungsmitteln oder Sportartikeln könnten aufgrund der Daten sehr zielgerichtet werben.
„Ich bin besorgt, dass meine Daten missbraucht werden könnten“, sagt Selbstvermesser Schaumann. Seine persönliche Schutzstrategie: Er nutzt mehrere verschiedene Apps, um zu verhindern, dass alle Daten irgendwo zu einem kompletten Persönlichkeitsprofil zusammengeführt werden. Und einige Daten vertraut er überhaupt keiner App oder InternetPlattform an, sondern trägt sie nur in ein Tabellenkalkulationsprogramm auf seiner Festplatte ein. Das Selbstvermessen aufzugeben, daran denkt Schaumann aber nicht. Ihn interessiert vor allem die Frage: „Wann werden meine Eltern damit anfangen?“
Dr. Frank Frick, Journalist für Technik, Medizin und Wissenschaft