Es gilt als sicher, dass im Meer und im Boden noch viele Organismen zu entdecken sind – und damit auch zahlreiche medizinische Wirkstoffe. Darüber haben Redakteurin Salome Berblinger und ich im Titelthema der Januar-Ausgabe 2024 von bild der wissenschaft berichtet. Dabei habe ich den Teil zu den Medikamenten aus dem Meer beigesteuert.
Neugierig genug, um das bdw-Heft zu bestellen?
Ich habe das Thema früher schon einmal für das Buch „Mensch und Meer“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (wbg) aufbereitet. Ich stelle den Text hier online, da das Buch aufgrund des eingeleiteten Insolvenzverfahrens der wbg bald ohnehin vom Markt verschwindet.
Blaue Wirkstoffe
Moleküle aus dem Meer oder ihre Kopien bekämpfen unter anderem Viren und Krebs. Sie machen die Haut widerstandsfähiger und bremsen ihre Alterung.
Die Geschichte der Arzneistoffe, die ihren Ursprung im Meer haben, beginnt mit einer Story, die sich ein Autor kaum besser hätte ausdenken können. Die Helden, je nach Perspektive: Ein deutschstämmiger Chemiker oder ein unscheinbarer brauner Meeresschwamm. Das Happy End, der riesige Erfolg, war die Folge einer Suche nach etwas völlig anderem. Zufällig kam er trotzdem nicht, denn ohne die Neugier, die Hartnäckigkeit und das Teamwork von Wissenschaftlern hätte er sich nicht eingestellt.
Der Chemiker hieß Werner Bergmann, 1904 geboren in Bielefeld, Studium an der Universität Tübingen, Promotion im Alter von 24 an der Universität Göttingen. 1931 ging er mithilfe eines Stipendiums an die renommierte Yale University in New Haven an der Ostküste der USA.
Die Meeresschwamm-Art dagegen war namenlos: Kein Biologe hatte sie wissenschaftlich beschrieben und in die Systematik der Lebewesen eingeordnet. Aufeinander trafen Bergmann und der unbenannte Schwamm, als der Chemiker im Jahr 1945 vor der Küste Floridas tauchte, um einige der unbeweglichen Flecke aus porösem Gewebe vom Ozeanboden aufzusammeln. Sein Interesse galt den Schwämmen als einer Quelle für neuartige Sterine – eine damals noch weitgehend unerforschte Substanzklasse. Das heute bekannteste Sterin ist das Cholesterin.
Zurück im Labor, wandte Bergmann die übliche Methode an, um Sterine aus Schwämmen herauszulösen: Er legte die Proben der unbenannten Art in kochendes Aceton. Dabei geschah etwas Unterwartetes: Es „trennte sich vom siedenden Lösungsmittel eine ziemlich große Menge eines schön kristallinen Materials in einer Ausbeute ab, die etwa zwei Prozent des getrockneten Schwamms entsprach“, wie Bergmann 1951 berichtete.
Er analysierte die Substanz und stellte fest, dass sie eng verwandt war mit Thymidin, einem Baustein der DNA. Zwar war der genaue Aufbau der Erbsubstanz damals noch ein Rätsel, aber die vier wesentlichen Bausteine – die Nukleoside, darunter Thymidin – waren bekannt. Er nannte die Substanz Spongothymidin (griechisch „spongos“ = Schwamm).
Offen blieb zunächst die Frage, wozu der Schwamm mit dem heutigen Namen Tectitethya crypta so große Mengen Spongothymidin produziert. Heute lässt sie sich beantworten: Schwämme können wie andere Weichtiere, die am Meeresboden verankert sind, weder vor Fressfeinden noch vor wuchernden Algen oder Pilzen fliehen. Daher produzieren sie hochwirksame Abwehrstoffe. Evolutionär naheliegend ist es, diese Abwehrstoffe durch eine leichte Abwandlung von Substanzen herzustellen, die mit anderer Funktion sowieso im Organismus vorhanden sind. Mit Hilfe von Spongothymidin kann der Schwamm den Zellstoffwechsel anderer Organismen stören.
Das Wirkprinzip: Das leicht abgewandelte Nukleosid ist dem Original so ähnlich, dass Zellen es in ihre DNA einbauen. Doch dort funktioniert es nicht so wie das Original und stört den weiteren Prozess der DNA-Synthese. Wissenschaftler erkannten in den Jahren nach Bergmanns Spongothymidin-Entdeckung, dass sich dieses Konzept für Arzneimittel nutzen lässt. 1969 kam mit Cytarabin (Ara-C) das erste entsprechende Medikament auf den Markt. Es ist bis heute gegen Leukämie im Einsatz. 1976 folgte Vidarabin (Ara-A) gegen Herpes, Windpocken und Gürtelrose, 1987 dann Azidothymidin (AZT), das erste Medikament gegen Aids. AZT war das damals teuerste Medikament der Welt.
Marine Wirkstoffe chemisch nachgebaut
„Seit den frühen Forschungsbemühungen haben sich marine Naturstoffe als zuverlässige und nachhaltige Lieferanten für bioaktive Wirkstoffkandidaten erwiesen“, schrieb 2020 das Autorenquartett eines Übersichtsartikels in der Fachzeitschrift „Current Research in Biotechnology“. Bis dahin ließ die amerikanische Arzneimittelbehöre FDA nach Angaben des Departments MarinePharmacology der Midwestern University, USA, 13 Medikamente aus dem Meer zu. Darunter finden sich solche, die Tumore oder Viren bekämpfen, aber auch eins gegen Nervenschmerzen – Ziconotid, das aus einem Gift der Kegelschnecken entwickelt wurde. Andere Medikamente mit Wirkstoffen, deren natürliche Vorbilder aus Fischen stammen, bekämpfen einen zu hohen Cholesterinspiegel. 23 weitere Wirkstoffe aus dem Meer befanden sich Ende 2020 in klinischen Prüfungen, darunter welche gegen Entzündungen, bakterielle Infektionen, Diabetes und die Alzheimer-Demenz.
Dabei gehen die Substanzen nicht nur auf Schwämme, Schnecken und Fische zurück, sondern auch auf Bakterien, Archaeen, Pilze, Algen, Seegräser und Muscheln. Allerdings sind diese Meeresbewohner nur selten Lieferanten im wortwörtlichen Sinne: Meist handelt es sich bei den Arzneistoffen um künstlich hergestellte Kopien der natürlichen Substanzen. Dafür gibt es hauptsächlich zwei Gründe. Erstens: Aus dem Meer können die Lebewesen meist nicht zu jeder Jahreszeit und in gleichbleibender Qualität geerntet oder gefangen werden, um daraus genügend Wirkstoff zu gewinnen. Zweitens: Der mögliche Ausweg, die Meeresbewohner in einer Aquakultur zu halten, ist voller Hürden – bei Schwämmen beispielsweise sind entsprechende Versuche einige Male fehlgeschlagen. Daher stellt die pharmazeutische Industrie die Wirkstoffe mit Hilfe chemischer Methoden meist aus erdölbasierten Grundstoffen zunächst im Labor und später in ihren Anlagen her.
Hoffnung auf noch viele Neuentdeckungen
Experten, die nach neuen Arzneistoffen aus dem Meer suchen, haben gute Gründe, optimistisch zu sein: Weil die systematische Suche später begann und aufwendiger ist als die nach Naturstoffen an Land, sind wohl die meisten Stoffe noch unentdeckt, die von Meeresbewohnern produziert werden. „Obwohl über 400.000 Naturstoffe identifiziert worden sind, stammen weniger als zehn Prozent aus Meeresorganismen“, schrieb Ende 2020 ein internationales Forscherteam in der Fachzeitschrift „Natural Product Reports“. Dabei, so die Wissenschaftler weiter, würden marine Moleküle häufiger über neuartige chemische Grundstrukturen verfügen und besäßen eine rund viermal höhere Chance für die Medikamentenentwicklung als ihre terrestrischen Gegenstücke.
Hoffnungsvoll stimmt viele Experten auch, dass neue Tiefseetechnik, moderne Methoden zur Vervielfältigung von DNA, chemische Hochdurchsatz-Analysen sowie die Bioinformatik den Forschenden in den letzten zwei Jahrzehnten neue Möglichkeiten eröffnet haben, die Schätze des Meeres zu erschließen.
Die molekularen Kostbarkeiten im Ozean sind so vielfältig, weil das Leben dort schon seit rund 3,7 Milliarden Jahren existiert, also dreimal so lange wie das Leben an Land: Die Meeresbewohner hatten viel Zeit, um die vielen ökologischen Nischen im Ozean zu besetzen. So haben sie sich im Laufe der Evolution an teilweise extreme Bedingungen angepasst. Manche produzieren daher Substanzen, die sie vor der Kälte in den Polarregionen, der Hitze von Hydrothermalquellen oder vor UV-Strahlung schützen.
Solche Stoffe sind auch abseits der Medizin begehrt: Schon lange setzt die Kosmetikindustrie sie in ihren Produkten ein, deren Käufern sie beispielsweise eine höhere Widerstandsfähigkeit der Haut verspricht. „Kosmetische Wirkstoffe aus dem Meer haben für den Konsumenten und die Kosmetikindustrie einen besonderen Reiz: Sie vereinen den Wunsch nach Natürlichkeit und Nachhaltigkeit mit der Faszination der unerforschten Tiefen des Ozeans“, schreibt etwa das Unternehmen Merck in einer Pressemitteilung. Es stellt für die kosmetische Industrie unter anderem einen Wirkstoff aus der Rotalge Polysiphonia Elongata her, der laut Unternehmensangaben hautverjüngend, hautglättend, faltenreduzierend und feuchtigkeitsspendend wirkt.
Substanzen aus dem Ozean können noch völlig andere nutzbare Wirkungen haben: Japanische Fischer verwendeten vor rund 100 Jahren marine Gliederwürmer der Art Lumbriconereis heteropoda als Köder. Dabei stellten sie fest, dass sie nach ihrem Kontakt mit den Würmern gelegentlich unter Kopfschmerzen, Übelkeit und Atembeschwerden litten. Ein japanischer Wissenschaftler isolierte daraufhin 1934 eine giftige Substanz aus dem Wurm, die er Nereistoxin nannte. Das Unternehmen Takeda Chemicals entwickelte daraus Stoffe, die in asiatischen Länder eingesetzt wurden, um Insektenplagen in Orangenplantagen und Reisfeldern zu bekämpfen.
Die Geschichte der blauen Wirkstoffe ist voll solcher Anekdoten und sicher noch nicht zu Ende erzählt.