„Menschliches Versagen“ — so lautet der offizielle Befund bei 80 Prozent aller Flugunfälle. Wären Automaten demnach die besseren Piloten? Experten bestreiten, dass Entmündigung der Piloten mehr Sicherheit bringt.
Erschienen in: bild der wissenschaft 5/1997
1996 war ein trauriges Jahr für die zivile Luftfahrt. 1840 Menschen an Bord von Flugzeugen kamen durch Unfälle ums Leben – mehr als jemals zuvor. Dies muss nicht zwangsläufig Ausdruck eines generellen Trends sein. Die höhere Zahl an Unfällen sollte auch vor dem Hintergrund des enorm gestiegenen Luftverkehrsaufkommens gesehen werden. Schließlich wurden im letzten Jahr 75 Prozent mehr Passagiere transportiert als noch vor zehn Jahren.
Doch am Horizont sind Wolken aufgezogen. Eine Studie von Boeing besagt klipp und klar: Wenn es nicht bis zum Jahr 2000 durch verstärkte Anstrengungen gelingt, der Störfall- und Unfalltendenz gegenzusteuern, dürfte es künftig – angesichts des weiter wachsenden Luftverkehrs – jede Woche irgendwo auf der Welt ein kapitales Flugzeugunglück mit Toten und Verletzten geben.
Die Industrie hat in der Vergangenheit versucht, durch die Konstruktion von immer höher automatisierten Flugzeugen die Sicherheit im Luftverkehr zu erhöhen. Die Ingenieure ersetzten mechanische durch elektronische Steuerungen, überließen dem Computer die Regelung aller Systeme und bauten immer raffiniertere elektronische Warnverfahren ein. Hinter dieser Automatisierung steckte eine Philosophie, die – auf einen kurzen Nenner gebracht – lauten könnte: „Der Mensch kann irren, der Computer nicht.“
Schwachstelle Mensch?
70 bis 80 Prozent der Flugunfälle, so besagen die Statistiken, gingen auf „menschliches Versagen“ zurück. Im Jahr 1996 seien „Fehler der Besatzung“ zumindest mit die Ursache für den Tod von 1052 Menschen gewesen.
Doch die Zahlen über die vermeintliche Schwachstelle Mensch sind nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Avionik-Experte Prof. Gerhard Faber, Hochschullehrer in Chemnitz und Darmstadt, wehrt sich dagegen, den Menschen als „Risikofaktor im Cockpit“ abzustempeln: „Bedauerlicherweise fehlt eine Statistik, wie oft hochqualifizierte Piloten beim Versagen technischer Systeme Unfälle vermieden haben.“
Unfallberichte nähren die Zweifel an einfachen Schuldzuweisungen. So konnte man früher etwa den Autopiloten im Airbus 320 über denselben Knopf mit zweierlei Daten füttern: gewünschte Sinkgeschwindigkeit oder Sinkwinkel. Beim Landeanflug auf Straßburg waren Piloten 1992 der Meinung, sie hätten einen Sinkwinkel von 3,3 Grad – etwa 250 bis 270 Meter – pro Minute eingegeben. Statt dessen hatten sie irrtümlich die Sinkgeschwindigkeit von 3300 Fuß (1005 Meter) pro Minute programmiert. Kein Zweifel: Der Fehler, der damals 87 Menschen das Leben kostete, lag bei den Piloten. Aber nur aufgrund der Automatisierung verlief der Landeanflug so katastrophal, und er wurde durch schlechte Anordnung der Bedienelemente begünstigt. Das Unternehmen Airbus hat das inzwischen korrigiert.
Fehler des Piloten und der elektronischen Steuerung sind oft eng miteinander verknüpft. Es sei unstreitig, sagt Walter Kroll, Chef der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt, dass auch die aufsehenerregenden Flugzeugunfälle des letzten Jahres meist an der Schnittstelle zwischen menschlichem Pilot und Autopiloten ihren Anfang genommen hätten.
Siegfried Niedek von der TU Berlin, Leiter einer europäischen Initiative zur Verbesserung der Flugsicherheit, erläutert: „Der Pilot weiß nicht, welches dreidimensionale Bild sich der Computer gerade von einer Flugsituation macht. Es ist sicherlich nicht das gleiche wie das im Kopf des Piloten.“ Avionik-Fachmann Faber ergänzt: Die heutigen Flugzeuge reagierten im Störfall so komplex, daß sie nicht immer beherrschbar seien. „Insbesondere unter Zeitdruck strömen zu viele Informationen auf den Piloten ein, die Folge sind Fehlentscheidungen.“
Technik auf den Menschen zuschneiden
„Mehr Sicherheit durch mehr Automatisierung“ – dieses Rezept geht nicht zwangsläufig auf. Solange der Mensch im Flugzeug nicht vollständig ersetzt werden kann, muss die Technik auf ihn zugeschnitten werden – mit all seinen Fähigkeiten, aber auch Grenzen. Ein Paradebeispiel falsch verstandenen Fortschritts ist die Umstellung von analogen Zeigerinstrumenten auf digitale. Niemandem fällt es schwer, innerhalb von Sekundenbruchteilen in einer Reihe von Instrumenten zu erkennen, daß ein Zeiger von der vorgeschriebenen Stellung abweicht. Bei einer vom Normalen abweichenden Zahl in einer Zahlenreihe gelingt dies nicht so schnell – im Störfall geht der Besatzung wertvolle Zeit verloren. „Heute simulieren manche Computer wieder die alten, analogen Anzeiger“, schmunzelt Siegfried Niedek.
Viele Experten versprechen sich einiges von einer Entwicklung, die nicht nur in der Luftfahrt in aller Munde ist. „Es wird wohl bald möglich werden, daß der Pilot jederzeit ein Bild der Umgebung zur Verfügung hat – echte oder virtuelle Sicht“, prophezeit Dr. Raphael Diepgen, Bochumer Psychologe und Pilot. Doch für mehr Sicherheit in der Luftfahrt reicht es nicht aus, erklären Niedek und Faber, die Technik auf den Menschen zuzuschneiden. In jedem Fall müsse der Pilot die oberste Instanz im Cockpit bleiben. Welche Folgen es hat, wenn der Pilot weitgehend entmündigt ist, zeigte etwa 1993 der Warschauer Unfall einer Lufthansa-Maschine. Beim Landen auf regennasser Bahn verweigerte die Bordelektronik die Ausführung der Bremsbefehle. Zusätzlich von einer plötzlichen Bö erfaßt, raste die Maschine über das Ende der Landebahn hinaus. Hier hätte das Schlimmste vermieden werden können, wenn die Besatzung die Spoiler-Klappen an den Tragflügeln zur Veränderung der Strömungsverhältnisse – nach dem Landen hätte ausfahren können. Der Computer war aber der Meinung, die Maschine sei noch nicht gelandet. Also gab er Spoiler, Schubumkehr und Radbremsen nicht frei.
Bessere Ausbildung erforderlich
Mehr Sicherheit sei indes nur möglich, unterstreicht Faber, wenn sich die Optimierungsstrategien nicht ausschließlich auf die Maschine konzentrierten. „Der Mensch muß besser ausgebildet werden“, plädiert er. Trotz ihrer Einfachheit steckt in dieser Aussage große Brisanz: Schließlich hatte Airbus einmal damit geworben, jedes Kind könne seine modernen Jets fliegen.
Der Avionik-Experte mahnt: Es wäre ein Trugschluß, wenn die Airlines sich in diesen Zeiten wirtschaftlichen Drucks entschließen würden, an der Ausbildung ihrer Piloten zu sparen. Denn mit der Einführung der elektronischen Steuerung und Computerregelung habe sich die Zahl der Unfälle, die auf mangelhafter Qualifikation der Crew beruhten, vervierfacht.
Viele Fähigkeiten des Menschen verlieren sich rasch, wenn er sie nur selten benutzt. So stellen gerade die immer „perfekter“ werdenden Mensch-Maschine-Systeme wachsende Anforderungen an das Training der Menschen. Und genau dies, schrieb 1982 die englische Psychologin Lisanne Bainbridge, sei nun einmal die Ironie der Automatisierung.
Dr. Frank Frick, Technikjournalist